Proteste gegen den „Marsch für das Leben“ in Berlin

Auswertung und Diskussionsbeitrag des AK Codename Kot

Seit mittlerweile 15 Jahren ziehen christliche FundamentalistInnen durch Berlins Mitte. Im Mittelpunkt ihrer Demonstration, die zunächst als „1000 Kreuze für das Leben“ firmierte, steht der Angriff auf die körperliche Selbstbestimmung von Frauen* – insbesondere die Forderung Abtreibung grundsätzlich zu verbieten.

Fast ebenso lange setzen feministische und antifaschistische Gruppen ihren Protest gegen diese öffentliche Propaganda für ein patriachales Weltbild. Lange Zeit wurde dabei primär auf kreative Störungen der Auftaktkundgebung und des Marsches gesetzt. Parolen, Konfetti und Glitzer sollten die Propaganda nicht unwidersprochen lassen und den Trauermarsch zu einer Feier für Selbstbestimmung umfunktionieren. Mehrere Jahre landeten auch etliche Holzkreuz der FundamentalistInnen in der Spree.

In den letzten zwei bis drei Jahren hat sich der Charakter der Gegenproteste deutlich geändert. Seit 2014 organisiert das What the Fuck?!-Bündnis eine eigenständige Demonstration am Vormittag. Gleichzeitig wurden organisierte Massenblockaden zur zentralen Aktionsform.

In diesem Jahr wollten wir als Codename Kot Störungen der Auftaktkundgebung wieder mehr in den Mittelpunkt rücken. Konkret riefen wir dazu auf, diese zum Stinken zu bringen. Wir möchten mit diesem Text nicht nur unsere Erfahrungen teilen und die Aktion auswerten, sondern auch einen Diskussionsanstoß für die nächsten Jahre geben.

Blockaden

Nach dem Erfolg der eher spontanen Blockaden 2014 – der Marsch musste mehrfach umgeleitet, deutlich verkürzt und teilweise über den Fußweg an Blockaden vorbei geführt werden – fokussierten sich die Gegenproteste 2015 vollends auf Massenblockaden. Dank dieser gelang es erstmals, den Marsch über längere Zeit aufzuhalten und so den Zeitplan der FundamentalistInnen durcheinander zu bringen.

Die Kehrseite der Medaille: Die Propagandashow bei der Auftaktkundgebung blieb völlig unwidersprochen. Sicht- oder hörbaren Protest gab es 2015 während der gesamten Auftaktkundgebung keinen. Auch entlang und in dem Marsch wurde von 1-2 Ausnahmen abgesehen kein Widerspruch sichtbar.

Gleichzeitig zeigte sich in unseren Augen immer deutlicher, dass die Demonstration in der Choreographie der FundamentalistInnen nur ein geringen Stellenwert einnahm. Ihr Fokus scheint auf Auftaktkundgebung und Abschlussgottesdienst zu liegen. Bereits 2014 hatten sie auf Blockaden sofort mit einer Umleitung und Verkürzung der Route reagiert – zum Stehen kam der Zug so gut wie nie. Im Folgejahr hatten sie konsequenterweise gleich die kürzestmögliche Route gewählt. Das wichtigste Anliegen der Demonstration schien pünktlich beim Abschlussgottesdienst anzukommen. Schön, dass wir gerade dies im letzten Jahr verhindern konnten.

Auch wir hatten nicht damit gerechnet, dass die FundamentalistInnen sich in diesem Jahr gleich selbst auf eine Runde ums Regierungsviertel beschränken. Rückblickend wirkt dies jedoch nur konsequent. Dass sie diesen eh schon kurzen Spaziergang dank der Blockaden noch stärker abkürzen mussten, schien nur wenige außer uns wahrzunehmen.

Vor diesem Hintergrund betrachten wir rückblickend unseren Fokus auf die Auftaktkundgebung als richtig.

„Eure Propaganda stinkt zum Himmel“

Als Codename Kot hatten wir uns als Ziel gesetzt, die Auftaktkundgebung durch Gestank effektiv zu stören. Dies ist uns nur bedingt gelungen. Bevor wir die Gründe dafür diskutieren, möchten wir jedoch zunächst unsere Erfahrungen schildern.

Im Gegensatz zu den letzten Jahren war die Auftaktkundgebung vollständig abgegittert. An den wenigen Zugängen standen von Anfang an Bullen. Auch innerhalb der Kundgebung waren Anti-Konfliktteams und andere Bullen anwesend. Trotzdem war es problemlos möglich in die Kundgebung einzusickern und sich dort aufzuhalten.

Die meisten Aktivist*innen, die sich an unserer Aktion beteiligten, setzten auf sogenannte Pups-Sprays. Diese versprühen fast eine Minute lang eine nach Kotze stinkende Substanz, die sich auch an der freien Luft erst nach einigen Minuten verflüchtigt. Für einige Minuten stanken zumindest Teile der Kundgebung bestialisch.

Die meisten selbsternannten „LebensschützerInnen“ reagierten mit einer stoischen Gelassenheit, die uns verblüffte. Aktivist*innen, die unmittelbar vor der Bühne ein Transparent entrollten, wurden erst nach einiger Zeit von einem Ordner und später von den Bullen ruhig aufgefordert, zu gehen. Auch Andere, die deutlich sichtbar in der Kundgebung „Pups-Spray“ versprühten, wurden von den meisten FundamentalistInnen ignoriert. Nur vereinzelt reagierten FundamentalistInnen panisch („Achtung, die Sprühen mit Buttersäure“) und versuchten wenig energischen die Aktivist*innen aufzuhalten. Der Tumult, den wir uns erhofft hatten, konnte so nicht eintreten.

Beim Versuch die Kundgebung zu verlassen, wurden einige Aktivist*innen von Bullen aufgegriffen. Sie mussten ihre Personalien abgegeben und wurden nach einiger Zeit mit einem Platzverweis entlassen. Beschlagnahmte „Pups-Sprays“ wurden eher belustigt zur Kenntnis genommen.

Wir hatten gehofft, durch unseren Aufruf auch andere (wieder) zu motivieren, mit ihren Ideen und Mitteln die Auftaktkundgebung zu stören. Dies hat leider gar nicht geklappt. Außer uns haben wir nur noch eine Samba-Gruppe an den Gittern der Kundgebung wahrgenommen. Leider sind die Störungen so angesichts der Größe und Dauer der Auftaktkundgebung verpufft.

Leider war auch die Beteiligung an unserer Aktion mau. Wir haben unsere Aktion als offen und anschlussfähig ausgelegt. Im Vorfeld haben wir kommuniziert, was wir tun wollen, welche Mittel wir dafür als geeignet betrachten und wie wir das rechtlich einschätzen. Wir denken, es liegt an mehreren Faktoren, dass sich trotzdem nur so wenige anschlossen:

  • Unsere Aktion war vergleichweise anspruchsvoll. Im Gegensatz zur Teilnahme an der Demonstration und späteren Blockaden war eine Vorbereitung notwendig. Ein stinkendes Hilfsmittel findet sich nun mal nicht spontan vor Ort.
  • Es ist für linksradikale Aktivist*innen meist ungewohnt, sich Mitten unter die politischen Feinde zu mischen und deren Veranstaltungen von innen zu stören. Auch wir hatten dabei ein mulmiges Gefühl.
  • Mit dem Einsatz von stinkenden Substanzen gibt es bisher schlicht wenig Erfahrungen. Auch blieb (und bleibt) es eine offene Frage, welche Vorwürfe Polizei und Staatsanwaltschaft daraus letzlich drehen werden.
  • Die Wahrscheinlichkeit von Bullen aufgegriffen zu werden, war vergleichsweise hoch – was der Tag letztlich auch gezeigt hat. Viele schreckt die Aussicht, sich mit Bullen auseinandersetzen zu müssen, zu Recht ab.
  • Und nicht zuletzt Zwang der späte Zeitpunkt der Demonstration des What the Fuck?!-Bündnisses die Leute dazu, sich zwischen den verschiedenen Angeboten zu entscheiden.

Zusammenfassend denken wir, dass es in Berlin zur Zeit leider nur noch wenige Menschen gibt, die eigene Aktionen vorbereiten und durchziehen (wollen). Eigeniniative von Bezugsgruppen fehlt meist. Der Protest bleibt in starren und vorhersehbaren Formen der Massenblockade verfangen. Im Resultat sind wir nicht mehr wild und kreativ sondern kontrollier- und beherrschbar. Ein Problem, dass sich nicht nur bei „1000 Kreuze“ zeigt.

Neben der konkreten Störung ging es uns im Vorfeld auch darum, eine Drohkulisse aufzubauen. Wir wollten die FundamentalistInnen verunsichern und gleichzeitig die Bullen zwingen, ihre Kräfte auf mehrere, zeitgleiche Aktionen zu verteilen. Zwar erreichten wir einige Resonanz bei den FundamentalistInnen und auch die Polizei sah sich gezwungen deutlich mehr Kräfte bei der Auftaktkundgebung bereit zu halten, jedoch verpuffte auch dies duch das sehr späte Ende der Demonstration. Unsere Aktion war schlicht schon eine Stunde vorbei bevor die ersten Gruppen versuchten die Polizeiabsperrungen an der Route zu überwinden.

Was nehmen wir mit?

  1. Die erfolgreichen Blockaden in den letzten Jahren zwingen die FundamentalistInnen mittlerweile auf eine kurze Route mit wenig Öffentlichkeit.
  2. Die Bedeutung des eigentlichen Marsches in der Choreographie der FundamentalistInnen hat parallel zum Erfolg der Blockaden abgenommen. Die Auftaktkundgebung ist in unseren Augen zum zentralen Ort geworden, an dem sie ihre reaktionäre Propaganda verbreiten.
  3. Trotz verstärkter Polizeipräsenz ist es problemlos möglich in die Auftaktkundgebung einzusickern und diese von innen zu stören. Auch an den Gittern um diese bleibt viel Raum für Protest.
  4. Um sowohl den Marsch als auch die Kundgebung zu stören, sollten wir wieder vermehrt auf eine Vielfalt der Aktionsformen setzen. Kreative Störungen und Blockaden können sich in unseren Augen gut ergänzen.
  5. Für beides braucht es jedoch wieder mehr Eigeniniative der Menschen auf der Straße. Leider stellt sich diese jedoch nicht durch die bloße Forderung in Texten wieder ein. Wir müssen konkrete Angebote schaffen und einen Rahmen bieten, um dies wieder vermehrt als Option sichtbar zu machen und gemeinsam Erfahrungen zu sammeln.
  6. Die Demonstration des What the Fuck?!-Bündnisses ist als eigenständiger Ausdruck unserer Positionen ein wichtiger Bestandteil der Gegenproteste. Sie sollte jedoch zukünftig früh genug enden, um nicht mit anderen Aktionsformen in Konkurrez zu treten.

Wir sehen uns beim nächsten Jahr, wenn es wieder heißt: What the Fuck?!

P.S.: Betroffene von Repression melden sich bitte unter codename-kot[at]riseup.net. Gemeinsam löffeln wir die Suppe aus – wenn denn welche kommt.